- UN: Die Gründung der Vereinten Nationen
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Als die 51 Delegierten auf der Konferenz von San Francisco am 26. Juni 1945 ihre Unterschrift unter die Charta der Vereinten Nationen setzten, schlug eine Sternstunde der internationalen Politik. Nicht weniger wurde da beschlossen, als der Versuch, »die kommenden Generationen vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsägliches Leid über die Menschheit gebracht hat«. So lautet der erste Satz der Präambel. Seiner Verwirklichung sind die weiteren Bestimmungen der Charta gewidmet.Der Weg zur neuen WeltorganisationErste SonderorganisationenDa erste Überlegungen zu einer neuen Weltorganisation in den Kriegsjahren 1942 und 1943 als akademisch gelten mussten, rückten Pläne zur ökonomischen Umgestaltung der Nachkriegswelt in den Vordergrund. Der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt überraschte die Welt mit dem Vorschlag, eine Ernährungskonferenz einzuberufen, die am 18. Mai 1943 in Hot Springs, Virginia, zusammentrat. Diese United Nations Conference on Food and Agriculture setzte eine Interimskommission ein, die die formale Gründung der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) vorbereiten sollte, welche schließlich am 16. Oktober 1945 erfolgte. Damit regte Roosevelt zu einem Zeitpunkt Bemühungen um eine erste Sonderorganisation an, als die Hauptorganisation noch gar nicht zu sehen war.Wenn man so will, entstand am 9. November 1943 die zweite Sonderorganisation der noch gar nicht existierenden Organisation der Vereinten Nationen (UNO), die United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA). Ihr wurden die gemeinsamen Hilfsanstrengungen für die befreiten Länder übergeben, die natürlich hauptsächlich von den USA finanziert wurden. Im Dezember 1946 verließen die USA allerdings die gemeinsame Aktion und organisierten künftig ihre Hilfslieferungen allein.Sehr viel bedeutsamer für das System der Vereinten Nationen war jedoch die Weltwährungskonferenz in Bretton Woods, New Hampshire, vom 1. bis 22. Juli 1944. Hier wurden mit dem Internationalen Währungsfonds und der Internationalen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (Weltbank) zwei bedeutende Instrumente konzipiert, die nach Kriegsende die Weltwirtschaft neu ordnen und den Freihandel einrichten sollten.Die Zahl der Sonderorganisationen der entstehenden UNO wurde durch zwei Hinterlassenschaften des Völkerbunds vermehrt, der formal erst am 18. April 1946 aufgelöst wurde. Die 1919 im Rahmen des Völkerbunds gegründete Internationale Arbeitsorganisation ILO bekundete auf ihrer Konferenz in Philadelphia 1944 ihre Bereitschaft, auch mit der kommenden Weltorganisation zusammenzuarbeiten. Am 14. Dezember 1946 wurde sie zur UNO-Sonderorganisation. Etwas schwerer hatte es das ebenfalls vom Völkerbund eingerichtete, mit kulturellen Aufgaben befasste Committee on Intellectual Cooperation in eine entsprechende Sonderorganisation der UNO überführt zu werden. Die Charta der Vereinten Nationen widmet im Kapitel IX zwar auch der »Zusammenarbeit auf kulturellem und erzieherischem Gebiet« die notwendige Aufmerksamkeit; aber erst am 4. November 1946 wurde die United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization (UNESCO) gegründet und am 14. Dezember 1946 als Sonderorganisation anerkannt.Die ersten ÜberlegungenFast zwei Jahre nach der Gründung der Anti-Hitler-Koalition beschlossen die vier Großmächte USA, Großbritannien, Sowjetunion und China auf der Moskauer Konferenz am 30. Oktober 1943, nach dem Ende des Kriegs eine internationale Organisation zu gründen, die der Errichtung und Aufrechterhaltung des internationalen Friedens dienen sollte. Sie gaben ihr damals schon eine Aufgabe und zwei Merkmale mit auf den Weg.Die Friedensordnung sollte dafür sorgen, dass der Rüstung künftig nur ein Minimalaufwand zuteil werde; in der Tat kümmerten sich die Vereinten Nationen gleich nach ihrer Gründung sowohl um die nukleare wie um die konventionelle Abrüstung, allerdings ohne großen Erfolg. Bedeutsamer wurden die beiden Konstruktionselemente, die in Moskau festgelegt worden waren: Die neue internationale Organisation sollte auf der souveränen Gleichheit aller »friedliebenden« Staaten beruhen. Die zweite Bestimmung grenzte zunächst und vor allem die Feindstaaten aus, wurde dann aber sehr schnell zum Zankapfel zwischen den Großmächten. Dass die Organisation aus souveränen Staaten bestehen würde, war eigentlich selbstverständlich; doch zeigten die weiteren Verhandlungen, dass gerade das Souveränitätsprinzip ein gewaltiges Hindernis für die Friedensarbeit darstellte. Dass die Moskauer Erklärung nur von den vier Großmächten herausgegeben wurde, ließ deren Sonderstellung als weiteren Baustein erkennen. Erst langsam gelang es den kleineren Staaten, sich im Verlauf der weiteren Verhandlungen ins Spiel zu bringen.Grundlagen der UNO-SatzungAm 9. Oktober 1944 wurden in Washington die Vorschläge von Dumbarton Oaks für die Errichtung einer allgemeinen internationalen Organisation veröffentlicht, die die Zustimmung aller vier Großmächte gefunden hatten. Formal enthielten sie nur Empfehlungen, de facto beschrieben sie schon den Aufbau und die Funktionsweise der Organisation. Zwei umstrittene Punkte konnten nicht gelöst werden: der Abstimmungsmodus im Sicherheitsrat und die Zulassung der Ukraine und Weißrusslands als »souveräne« Mitglieder der Vereinten Nationen. Besonders die Abstimmungsformel erwies sich als hartnäckiges Problem, weil gerade sie den Widerspruch zwischen der Souveränität der Großmächte und ihrer Aufgabe, den Frieden zu wahren und notfalls zu erzwingen, offen zutage treten ließ. Sollte der Rat mit Mehrheit oder einstimmig entscheiden? Wie sollte er verfahren, wenn eine der Großmächte selbst in einen Konflikt verwickelt war? Für beide Fragen fand die Jaltakonferenz im Februar 1945 schließlich eine Antwort. Weißrussland und die Ukraine wurden als Vollmitglieder der Generalversammlung zugelassen, der Abstimmungsmodus im Sicherheitsrat geklärt: Jede Entscheidung musste die Zustimmung aller ständigen Sicherheitsratsmitglieder enthalten; legte ein solches Mitglied sein Veto ein, kam keine Entscheidung zustande. War ein ständiges Mitglied selbst in einen Konflikt verwickelt, so sollte es sich bei dessen friedlicher Beilegung — also nicht bei der gewaltsamen — der Stimme enthalten.Was sich die Amerikaner ausgedacht, in engem Schulterschluss mit Großbritannien erarbeitet, mit der Sowjetunion in hartem Ringen abgestimmt und von China hatten absegnen lassen, musste nun auf der Gründungskonferenz der Vereinten Nationen zur Diskussion gestellt werden. Sie begann am 25. April und endete am 26. Juni 1945 mit der Unterzeichnung der Charta der Vereinten Nationen in San Francisco.Charta von San FranciscoEin am Nationalstaat orientierter Aufbau?Unverkennbar ist die Weltorganisation so ähnlich aufgebaut wie ein Staat. An der Spitze steht der Sicherheitsrat, das Exekutivorgan. Ihm eigentlich übergeordnet, faktisch aber nachgeordnet ist die Generalversammlung aller Mitgliedstaaten, sozusagen das Parlament. Der Internationale Gerichtshof ahmt die dritte Gewalt, die Judikative, nach. Den dazwischen angesiedelten Wirtschafts- und Sozialrat muss man sich als Kombination eines Wirtschafts-, Arbeits-, Sozial- und Entwicklungshilfeministeriums vorstellen. Das Sekretariat mit dem Generalsekretär an der Spitze enthält die Ministerialbürokratie der Vereinten Nationen.Vergleiche hinken bekanntlich, und deswegen ist die dargestellte Analogie auch nur sehr oberflächlich. Dem Vergleich wird am ehesten noch der Sicherheitsrat gerecht, der im Falle einer Friedensbedrohung berechtigt ist, Gewalt einzusetzen bis hin zum Einmarsch in das Land des Aggressors. Die Generalversammlung kann aus zwei Gründen nicht mit einem Parlament verglichen werden. In ihr sind nicht die Bürger dieser Welt vertreten, sondern wiederum die Regierungen der Staaten. Die gesellschaftliche Ebene ist überhaupt nicht vertreten. Wenn sie sich in Gestalt von Nichtregierungsorganisationen überhaupt bemerkbar macht, ist der Wirtschafts- und Sozialrat ihr erster Ansprechpartner. Vor allem kennt das System der Vereinten Nationen keine Teilung der Gewalt. Sie liegt ausschließlich beim Sicherheitsrat, die Generalversammlung geht leer aus. Sie hat nichts zu tun und kaum etwas zu sagen.Im Sicherheitsrat wurden den fünf Großmächten — Frankreich war inzwischen in diesen Kreis aufgenommen worden — sechs nichtständige Mitglieder hinzugesellt, allerdings ohne Vetorecht. Sie werden alle zwei Jahre neu gewählt. 1965 wurde ihre Zahl auf zehn erhöht.FunktionsprinzipienWar der Aufbau der Vereinten Nationen dem Modell des Nationalstaats nachgebildet, so orientierte sich ihre Funktionsweise an der Praxis des Konzerts der europäischen Großmächte im 19. Jahrhundert. Deswegen wurde den Großmächten die beherrschende Stellung im Sicherheitsrat und diesem Gremium selbst das Gewaltmonopol zugewiesen. Es kann sich zwar nicht gegen eine Großmacht richten, weil sie den Gewalteinsatz mit ihrem Veto verhindern kann. Es soll sich aber auch nicht gegen eine Großmacht richten, weil in einem solchen Fall, wie der Krimkrieg (1853—56) gelehrt hat, das System zusammenbricht. Gegen kleinere Friedensbrecher kann die Gewalt des Sicherheitsrats eingesetzt werden — wenn sich die Großmächte einig sind. Wenn das nicht der Fall ist, bleibt das System inaktiv. Nun ist diese Schwachstelle nicht willkürlich eingebaut worden, sondern spiegelt die realen Machtverhältnisse in der Welt der Nationalstaaten wider. Sie weist den Großmächten einen doppelt privilegierten Status zu. Wenn diese an einer Aktion nicht teilnehmen, kommt sie nicht zustande; den Mittel- und Kleinstaaten fehlt die Macht. Gegen eine Großmacht können auch die vereinigten Kräfte aller anderen Großmächte nichts ausrichten, weil der Preis, die Zerstörung der Welt, viel zu hoch wäre.Die UNO hat aber noch eine zweite, sehr viel tiefer in die europäische Tradition hinabreichende Wurzel, die auf der Konferenz von San Francisco 1945 noch deutlich gesehen und gerade von den kleineren Staaten betont wurde. In dieser Perspektive wirken die Vereinten Nationen nicht als die Regierung der Welt, sondern als ihr Rathaus. Schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts war den politischen Denkern Europas bewusst geworden, dass der Krieg nicht nur durch böse Absichten der Politiker, sondern auch durch strukturbedingte Verhaltenszwänge ausgelöst werden kann. Weil es im internationalen System keine Zentralinstanz mit Sanktionskompetenz gibt, muss jeder Staat für seine Verteidigung sorgen. Da es alle tun, entstehen Rüstung und Rüstungswettläufe, schließlich der Krieg. Wer diese Ursache beseitigen will, muss die Isolierung der Staaten beenden, muss sie in einer internationalen Organisation zusammenführen, damit sie sich in der Zusammenarbeit dort kennen lernen und wechselseitig von ihren friedlichen Absichten überzeugen können. Diese Wirkung der internationalen Organisation hat den Vorteil, dass sie die Ursachen von Aggression und Krieg beseitigen kann, statt, wie das Konzept der kollektiven Sicherheit, nur deren Folgen mit Gewalt zu bekämpfen.Es war der amerikanische Senator ArthurH. Vandenberg, der in San Francisco die Trommel für diese Wirkung der internationalen Organisation rührte und ihre Erzeugung der Generalversammlung anvertraute. Hier kamen alle Staaten zusammen, hier entstand die Möglichkeit, durch Zusammenarbeit Vertrauen zu bilden. Hier ließ sich das wichtigste Problem des weltpolitischen Fortschritts, der friedliche Wandel wandlungsbedürftiger politischer Verhältnisse angehen, vielleicht sogar lösen. Während die Großmächte der Generalversammlung nur eine Empfehlungskompetenz auf dem Gebiet des Völkerrechts und der wirtschaftlichen sowie kulturellen Zusammenarbeit zugebilligt hatten, fügte das Vandenberg-Amendment die Aufgabe hinzu, »Maßnahmen für die friedliche Ordnung jeder Situation (zu) empfehlen«.In der Charta sind damit zwei Funktionsprinzipien enthalten, wenngleich in unterschiedlicher Ausstattung. Im Vordergrund steht das der Weltregierung durch den Sicherheitsrat mit seiner Gewaltkompetenz. Sehr viel schwächer ausgebildet, aber doch deutlich erkennbar, enthält die Charta auch das Funktionsprinzip der Kooperation, das darauf gerichtet ist, der Entstehung von Gewalt und Krieg vorzubeugen. Es sollte sich im Laufe der langen Geschichte der Vereinten Nationen zeigen, dass dieses zweite Funktionsprinzip wichtiger wurde als das erste.Organe und Aufgaben der UNODer SicherheitsratIn der Charta wurde die »Hauptverantwortung für die Aufrechterhaltung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit« dem Sicherheitsrat überantwortet. Seine Beschlüsse binden alle Mitglieder der UNO. Im Streitfall soll der Sicherheitsrat zunächst friedliche Maßnahmen einsetzen (Kapitel VI); wenn die versagen, stehen ihm die im Kapitel VII benannten Zwangsmaßnahmen zur Verfügung. Seine Kompetenzen sind in beiden Fällen beachtlich. Er kann jeden Streitfall an sich ziehen und Maßnahmen zu seiner Beilegung empfehlen.Kapitel VII der Charta gibt ihm das Recht, eine »Bedrohung des Friedens« festzustellen und zunächst gewaltfreie, dann aber auch gewalthaltige Maßnahmen zu ergreifen. Er kann durch »Luft-, See- oder Landstreitkräfte die Operationen durchführen, die zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit nötig sind«. Zu diesem Zweck verpflichteten sich alle Mitglieder der UNO, dem Sicherheitsrat Streitkräfte zur Verfügung zu stellen und Kontingente dafür in Bereitschaft zu halten. Den Einsatz der militärischen Gewalt sollte ein Generalstabsausschuss leiten, der aus den Generalstabschefs der ständigen Sicherheitsratsmitglieder besteht.Der Wortlaut der Charta gibt also dem Sicherheitsrat das Recht, als Weltregierung zu fungieren, als globale Zentralinstanz mit Sanktionskompetenz. Diese Bestimmungen reflektierten offensichtlich mehr den Wunsch nach Frieden als die Einsicht in die Realität der Weltpolitik. Denn wie reimte sich die Kompetenz des Sicherheitsrates auf die souveräne Gleichheit aller Mitglieder, die in Artikel 2 festgeschrieben wurde? Wie konnte man von ihnen in Artikel 43 sozusagen pauschal abverlangen, das wichtigste Attribut der Souveränität, die Verfügung über die Streitkräfte, in die Hand des Sicherheitsrates zu legen, wenn auch nur teilweise? Kein Mitgliedsstaat tat dies, schon gar nicht ein ständiges Mitglied des Sicherheitsrats; die in Artikel 43 vorgesehenen Sonderabkommen wurden nie geschlossen.Es war zwar logisch richtig, das in Artikel 2 enthaltene Verbot der Anwendung von Gewalt seitens der Mitgliedsstaaten zu ergänzen durch die Überstellung der Gewaltkompetenz an den Sicherheitsrat. Dieser gedankliche Fortschritt ist außerordentlich wichtig. Aber die zur Ausführung gewählte Methode unterstellte eine Interessenidentität der ständigen Sicherheitsratsmitglieder, die gar nicht zu erwarten gewesen war. Allein im ersten Arbeitsjahr der Organisation, 1946, legte die Sowjetunion zehn Vetos im Sicherheitsrat ein. Die Differenzen zeigten sich auch bei der Aufnahme neuer Mitglieder in die UNO. Sie mussten, wie in Artikel 4 festgelegt, »friedliebend« sein. Bis 1956 wurde die Arbeit der Weltorganisation dadurch blockiert, dass die Gegner im Ost-West-Konflikt das Kriterium der Friedensliebe benutzten, um den Mitgliedern des jeweils anderen Blocks den Eintritt in die Organisation zu verwehren.Die GeneralversammlungDie Generalversammlung wurde in der Charta eher stiefmütterlich behandelt. Ihr sind nur 13 Artikel gewidmet gegenüber 28 für den Sicherheitsrat. Sie war von den Großmächten eher als demokratisches Feigenblatt gedacht, zu dem sie sich überreden lassen mussten, das sie aber so klein wie möglich halten wollten.Zwar hat die Generalversammlung das Budgetrecht — aber was besagt das schon, wenn der Haushalt im Durchschnitt kleiner ist als der der Feuerwehr von New York? Sie wählt die nichtständigen Mitglieder des Sicherheitsrats, die des Wirtschafts- und Sozialrats, des Treuhandschaftsrats. Sie beschließt die Aufnahme neuer Mitglieder in die Organisation und gegebenenfalls deren Suspendierung. Dem »friedlichen Wandel« war in den ersten fünf Jahren nur eine Frage gewidmet, und die wurde abschlägig beschieden. Das town meeting, zu dem der amerikanische Senator Vandenberg die Generalversammlung weiterentwickeln wollte, fand also nicht statt. Wie die Mitglieder des Sicherheitsrats lagen auch die der Generalversammlung an der langen, aber strammen Leine ihrer Regierungen zu Hause. Die jährlich im Herbst stattfindenden Plenarsitzungen der Generalversammlung produzierten denn auch vornehmlich papierene Erklärungen. Etwas mehr Aufmerksamkeit wurde den später einsetzenden Sondersitzungen zuteil, auf denen sich die Generalversammlung zu aktuellen Einzelproblemen der Weltpolitik — von der Abrüstung bis zur Weltwirtschaftsordnung — äußerte.Die UNO als EntwicklungshelferIm Unterschied zum Völkerbund widmeten die Vereinten Nationen von Anfang an den wirtschaftlichen und sozialen Ursachen von Kriegen große Aufmerksamkeit und schufen dafür ein eigenes Organ, den Wirtschafts- und Sozialrat (Kapitel X). Er ist das Organ der Vereinten Nationen, das sich um die »Freiheit von Not« zu bemühen hat. Er soll die soziale und wirtschaftliche Lage in den Ländern der Welt untersuchen und Verbesserungsvorschläge an die Generalversammlung — interessanterweise nicht direkt an den Sicherheitsrat — richten. Er ist die Anlaufstelle für die vielen Sonderorganisationen.Wie wichtig diese Neuerung war, wie sehr sie den Bedürfnissen der Welt an wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung entgegenkam, zeigt die rasche Ausweitung der Tätigkeit des Wirtschafts- und Sozialrats. Er entfaltete bald ein riesiges Netzwerk von Kommissionen und Agenturen, darunter insbesondere die Wirtschaftskommissionen für Europa, für Asien und den Fernen Osten und für Lateinamerika. Der Wirtschafts- und Sozialrat wurde von den aufkommenden politischen Streitigkeiten sehr viel weniger betroffen als Sicherheitsrat und Generalversammlung.Vertagte EntkolonialisierungFreilich war der Wirtschafts- und Sozialrat 1945 nicht für jenen großen Teil der Erde zuständig, der in europäischem Kolonialbesitz war oder dem Treuhandsystem der Vereinten Nationen unterstellt wurde. Von einer radikalen Entkolonialisierung, von der Präsident Roosevelt einst geschwärmt hatte, war schon lange keine Rede mehr gewesen. Die UNO-Charta registrierte in ihrer »Erklärung über Gebiete ohne Selbstregierung« (Kapitel XI) den Kolonialismus als Faktum, versprach den Kolonien lediglich für die Zukunft Emanzipation. Die vom Völkerbund vergebenen Mandate über die Kolonien der damaligen Feindstaaten wurden dem internationalen Treuhandschaftssystem (Kapitel XII) und dem dazugehörigen Treuhandschaftsrat (Kapitel XIII) überstellt, das war ganz einfach.Was aber sollte mit den pazifischen Besitzungen Japans geschehen, an denen die USA inzwischen ein direktes strategisches Interesse hatten, was mit den amerikanischen Basen im Pazifik, die auf die unterschiedlichsten Rechtstitel zurückzuführen waren? Seine Lösung fand das Problem im Artikel 82, der es ermöglichte, solche Gebiete ganz oder teilweise zur »strategischen Zone« zu erklären und mithilfe von Sonderabkommen dem Sicherheitsrat direkt zu unterstellen. Die dem Rat eingeräumten Rechte wurden aber so klein gehalten, dass die amerikanische Verfügungsgewalt über diese Inseln und Mandate sich kaum von »kolonialem Besitz« unterschied. Das Kolonialproblem wurde 1945 also kurzerhand vertagt.Das Sekretariat und der GeneralsekretärNatürlich braucht die Weltorganisation eine Ministerialbürokratie, die den verschiedenen Gremien zuarbeitet. Sie wurde in Kapitel XV als »Sekretariat« ins Leben gerufen. Dergleichen hatte es schon beim Völkerbund gegeben, ebenso wie den Posten des Generalsekretärs. Nur erhielt dieser jetzt erheblich mehr Kompetenzen als sein Vorgänger. Er war nicht nur der Chef des Sekretariats und bei allen Sitzungen aller Gremien anwesend, er bekam mit Artikel 99 das Recht, die »Aufmerksamkeit des Sicherheitsrates auf alle Angelegenheiten (zu) lenken«, die den Frieden stören könnten. Darin steckt eine eminent politische Kompetenz. Eine politische Lage definieren, also autoritativ feststellen zu können, ob ein Konflikt vorliegt oder nicht, verleiht reale politische Macht. Freilich nur dann, wenn der Generalsekretär Persönlichkeit genug ist, diese Funktion gegenüber den im Sicherheitsrat vertretenen Großmächten auch durchzusetzen.Der Internationale GerichtshofEs gehört zu den großen und alten Hoffnungen der Menschheit, internationale Konflikte eines Tages durch Richterspruch lösen zu können. Die Haager Friedenskonferenz von 1907 hatte einen Schiedshof eingesetzt, der Völkerbund einen Ständigen Internationalen Gerichtshof, der bis 1940 tätig war. Die Satzung der Vereinten Nationen ging noch einen Schritt weiter und errichtete den Internationalen Gerichtshof als sechstes Hauptorgan der Organisation (Kapitel XIV). Er hat ein eigenes Statut, das Bestandteil der UNO-Charta ist.Freilich konnten auch dieses Mal die Staaten nicht verpflichtet werden, ihre sämtlichen Streitigkeiten dem Gerichtshof zu unterbreiten. Aufgrund der Fakultativklausel kann er sich nur mit solchen befassen, die ihm die Konfliktparteien freiwillig unterbreiten. Diese Möglichkeit wird wenig genutzt. Obwohl die Kohärenz des internationalen Systems bis 1945 erheblich zugenommen hatte und sich danach weiter steigerte, ist noch nicht jener »Raum« entstanden, in dem einheitliche Rechtsnormen angewendet und durchgesetzt werden können. Selbst im Rahmen dieser Einschränkung könnte vom Angebot der Rechtsprechung sehr viel mehr Gebrauch gemacht werden, als es tatsächlich der Fall ist.Prof. Dr. Ernst-Otto CzempielWeiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:UN: Die gewandelte Rolle der UNOGrundlegende Informationen finden Sie unter:Völkerbund: Hoffnungsträger einer neuen WeltordnungCharta der Vereinten Nationen. Kommentar, herausgegeben von Bruno Simma u. a. München 1991.Czempiel, Ernst-Otto: Die Reform der UNO. Möglichkeiten und Mißverständnisse. München 1994.Handbuch Vereinte Nationen, herausgegeben von Rüdiger Wolfrum. München 21991.Parsons, Anthony: From Cold War to hot peace. UN interventions 1947-1995. London u. a. 1995.Die Reform der Vereinten Nationen. Die Weltorganisation zwischen Krise und Erneuerung, herausgegeben von Klaus Hüfner. Opladen 1994.Rittberger, Volker u. a.: Vereinte Nationen und Weltordnung. Zivilisierung der internationalen Politik? Opladen 1997.Das System der Vereinten Nationen und seine Vorläufer, herausgegeben von Franz Knipping u. a. 2 Bände in 3 Teilen. Bern u. a. 1995-96.Unser, Günther: Die UNO. Aufgaben und Strukturen der Vereinten Nationen. München 61997.Die Vereinten Nationen. Geschichte, Struktur, Perspektiven, herausgegeben von Peter J. Opitz. München 21996.Volger, Helmut: Die Vereinten Nationen. München u. a. 1994.
Universal-Lexikon. 2012.